Auf einem Sockel thronend, wirken Afsaneh, Asra und Drishti auf den ersten Blick wie aus beigem Marmor gehauene Eulen. In Julia Schers Vorstellung entspricht die Form der Eule jedoch nicht gänzlich der eines Vogels: die Haltung und die Beine sind denen eines Menschen nachempfunden, während die imposanten Schultern und die Stirn nicht nur menschliche, sondern auch pferdeartige Züge aufweisen. Selbst die Federn der Eule sind mit Haaren gemischt. Als Anspielung auf eine posthumane, artenübergreifende Zukunft, verweist die Kombination aus menschlichen und tierischen Merkmalen gleichzeitig auf die bedeutende Rolle der menschlichen Vorstellungskraft bei der Interpretation des Verhaltens von Tieren. Ihre Fähigkeit Beutetiere zu sehen und ihre Nachtsicht, machen die Eule zu einer beeindruckenden Jägerin und zum Raubtier sowie zu einem Symbol für Weisheit und Wachsamkeit. Dies schafft eine subtile, aber wirksame Analogie zu Überwachungstechnologien und deren Einsatzmöglichkeiten.
Jede Eule trägt einen individuellen weiblichen Namen. Afsaneh entspringt dem persischen Wort für „Legende“ oder „Geschichte“. Dieser Name verweist somit auf die Bedeutung von Eulen in der internationalen Folklore und Mythologie. Asra bedeutet auf Arabisch „nächtliche Reise“ und auf Urdu „großzügig“ oder „edel“ und steht sowohl für nächtliche Bewegung als auch für einen moralischen Charakter. Drishti, ein Begriff aus dem Sanskrit für „Sicht“ oder „Vision“, lässt sich weiter auslegen als Einsicht, Wahrnehmung und Weisheit. Diese Eigenschaften werden in der menschlichen Vorstellung seit langem mit Eulen in Verbindung gebracht.
Die Installation umfasst einen speziell für HALLEN 06 von Julia Scher gestalteten Soundtrack. Jede der drei Eulen spricht die Betrachtenden in einer Stimme an, die zugleich besänftigend und beunruhigend wirkt. Ihre Stimmen oszillieren zwischen Prophezeiung und Warnung. Scheinbar zu Stein gefroren, werden die Eulen für einen Moment lebendig, als hätte die Überwachung selbst eine physische Gestalt angenommen.
Julia Schers Auseinandersetzung mit Marmorskulpturen begann im Jahr 2004 mit einer Serie von Dobermannhunden. In dieser Serie wurden die symbolischen Vertreter von Schutz und Wachsamkeit zu stillen Wächtern. Erstmals 2008 in der von Dan Graham kuratierten Ausstellung Deep Comedy präsentiert, begleiteten Audioaufnahmen diese Skulpturen. Die Stimme der Künstlerin, durch die Hunde übertragen, diente als Erweiterung ihrer wachsamen Präsenz. In dieser neuesten Werkserie führen Eulen dieses Erbe fort. Material, Klang und Symbolismus verschmelzen zu einer vielschichtigen Reflexion über Beobachtung und Kontrolle.
Julia Scher wurde 1954 in Hollywood, Kalifornien, geboren. Die Künstlerin lebt und arbeitet in Köln. Mitte der 1980er Jahre trat sie als präzise Beobachterin sozialer und technologischer Entwicklungen in Erscheinung. Sie beschäftigt sich seit mehr als 30 Jahren mit der Videoüberwachung. Hierbei befasst sie sich mit Überwachung sowohl als konkretes Phänomen der Kontrolle, einschließlich ihrer Apparate und Architektur, als auch mit ihren Auswirkungen auf den privaten und öffentlichen Raum. Schon früh lenkte sie mit ihren Performances und Videoinstallationen die Aufmerksamkeit auf die Auswirkungen der zunehmend allgegenwärtigen Kameras und Monitore.
Zu ihren jüngsten institutionellen Ausstellungen gehören: Maximum Security Society, Museum Abteiberg, Mönchengladbach (2023); Maximum Security Society, Kunsthalle Zürich, Zürich (2022); Wonderland, Maison Populaire, Montreuil (2022); Planet Greyhound, Kunsthalle Gießen (2022); Julia Scher, MAMCO, Genf (2021); und Julia Scher – Delta, Neuer Aachener Kunstverein, Aachen (2018).
Julia Scher hat bereits an diversen Institutionen sowie Universitäten gelehrt, darunter am Massachusetts Institute of Technology, an der Cooper Union for Art and Science, Hartford University Art School, University of California, Los Angeles, University of Southern California, Harvard University, Columbia University, am Institute for Advanced Study in Princeton und an der Rutgers University. Während ihrer Lehrtätigkeit am Department of Film and Video des Massachusetts College of Art (1995–1996) gründete sie das erste Seminar zum Thema „Surveillance Studies” in den USA. Von 2006 bis 2023 war Scher Professorin für Multimedia Performance / Surveillant Architectures an der Kunsthochschule für Medien Köln.
Ihre Arbeiten sind in zahlreichen Sammlungen vertreten: Museum of Modern Art, New York; Ballroom Marfa, Texas; Kunstsammlungen, Wiesbaden; Walker Art Center, Minneapolis; John Simon Guggenheim Memorial Foundation, New York; Julia Stoschek Collection, Düsseldorf/Berlin; Krannert Art Museum, Champaign, Illinois; Le Consortium, Dijon; Museum Ludwig, Köln; MAMCO, Genf; MIT List Visual Art Center, Cambridge, Massachusetts; Museen Sammlung zeitgenössischer Kunst der Bundesrepublik Deutschland, Bonn; Centre Pompidou, Paris; MoMA PS1, Long Island City, New York; Neue Galerie Graz – Universalmuseum Joanneum, Graz; Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge, Massachusetts, und SFMOMA, San Francisco.
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